Der Broadway Nº 10 – 2018/2019 widmet sich dem Thema „Wandel“. Kaum ein Begriff beschreibt die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre treffender – solange existiert die [Aktion! Karl-Marx-Straße] im Zentrum Karl-Marx-Straße nun schon.

Das Magazin beleuchtet den Wandel aus vielen unterschiedlichen Perspektiven – von den Menschen, die hier leben und arbeiten, über den öffentlichen Raum, die Entwicklung des Handels und der Gastronomie bis zur neuen Begeisterung für die Stadtnatur. Diese vielen unterschiedlichen Facetten zeigen das bunte Bild des Neuköllner Zentrums, seiner Chancen und Herausforderungen.

Anders wahrnehmen

Der öffentliche Raum ist der natürliche Ort der zwischenmenschlichen Begegnung. Seit der griechischen Antike dienten Plätze neben Transport und Handel auch der politischen Meinungsbildung und Abstimmung. Heutzutage erfüllen in den großen Städten viele Straßen und Plätze kaum mehr eine bedeutsame Funktion im gesellschaftlichen Leben, auch wenn hier zuweilen demonstriert wird oder Interessengruppen über ihre Programme informieren.

Neben dem Passieren, Flanieren und Verweilen bietet der öffentliche Raum einen bedeutenden Platz für die künstlerische Auseinandersetzung: die Kunst im öffentlichen Raum. Diese muss nicht immer als dauerhaftes Monument errichtet werden. Insbesondere kurzfristige Interventionen bieten Anlass zu Diskussionen, Auseinandersetzungen und gemeinschaftlichen Aktionen und lassen gesellschaftliche Teilhabe aufblühen, die möglicherweise auch den Blick auf den öffentlichen Raum der Zukunft verändern. Denn durch die Kunst wird besonders offensichtlich, dass der öffentliche Raum mehr sein kann, als nur von „A“ nach „B“ zu kommen. Anhand von drei Beispielen in Nord-Neukölln werden unterschiedliche Erfahrungen mit Interventionen beschrieben, die in den letzten Jahren im Rahmen des Kunstfestivals 48 Stunden Neukölln stattfanden.

Rauminstallation auf dem Richardplatz

Eine neue Raumerfahrung, Installation „Wo bin ich“ von Patricia Pisani auf dem Richardplatz, 2018 © Patricia Pisani

Patricia Pisani spielte 2018 mit ihrer Außeninstallation „Wo bin ich“ auf dem Richardplatz mit den unsichtbaren Grenzen im öffentlichen Raum. Sie setzte und markierte willkürliche neue Grenzen, schuf Raumzuschnitte und provozierte veränderte Bewegungen in der Grünfläche. Die Reaktionen der Besucher*innen waren nicht nur positiv. Dem Zugewinn neuer Raumerfahrungen von Kunstinteressierten stand die Verunsicherung von Menschen gegenüber, die den Platz als ihre eigene Einflusssphäre betrachteten. Rund um stark frequentierte Sitzbänke machte sich ein „Revierverhalten“ von Resident*innen bemerkbar, das sich nicht nur in verbaler Aggression entlud. Ein Nachbar fühlte sich durch die künstlerische Aktion so beeinträchtigt, dass er die Absperrbänder durchschnitt und schließlich die Polizei schlichtend eingreifen musste. Diese destruktive Energie war nicht erwartet worden, doch zeigt sich, dass der Finger genau auf die schmerzende Wunde des öffentlichen Raums gelegt worden war: Wer nimmt die (alleinige) Nutzung von Stadträumen für sich in Anspruch und wie funktioniert Marginalisierung?

Installation in der Passage

Im öffentlichen Raum entsteht ein neonpinkes Netzwerk, Installation in der Passage von Anja Sommer und Janna Schneewitta Rehbein, 2009 © Michaela Kirschning

Die Passage an der Karl-Marx-Straße bietet im Rahmen der 48 Stunden Neukölln immer wieder einen Fixpunkt für künstlerische Installationen. 2009 bot das von Anja Sommer und Janna Schneewitta Rehbein erdachte „Netzwerk“ Möglichkeiten zur Interaktion. Pinkfarbene Wollknäuel standen bereit und konnten von Passant*innen und Besucher*innen zu einem immer dichter werdenden Netz verwoben werden. Während der drei Festivaltage wurde das Netz immer komplexer und nahm schließlich den gesamten Innenhof der Passage ein.

Installation „Make More“ von Thilo Droste                                                                                               und Speed Foroghi in der Passage, 2017                                                                                                 © Thilo Droste

Mit „Make More“ haben Thilo Droste und Saeed Foroghi 2017 eine besondere Raumerfahrung konzipiert. Mit Hilfe von Umzugskartons wurde der Innenhof optisch geschlossen. Im Inneren wurden – unter Bezug auf die Neukölln prägende Gentrifizierung – Ergebnisse eines fingierten Architekturwettbewerbs ausgestellt, das denkmalgeschützte Bauensemble unterschiedlichsten Nutzungen zuzuführen. Passant*innen reagierten erstaunt auf die monumentale Installation, die ihre alltäglichen Wege durch die Passage neu lenkten. Jenen, die den Fake entschlüsselten, boten die Texttafeln einen ironischen Kommentar auf gewinnmaximierte Bauvorhaben. Andere diskutierten hitzig über drohende Umgestaltungen, bis sie auf den Spielcharakter aufmerksam gemacht wurden.

Dr. Martin Steffens, Kulturnetzwerk Neukölln e.V.