Sie haben die Einwanderung zum Thema Ihrer Stadtführungen gemacht. Wo finden sich die Spuren der Einwanderung, vor allem die der so genannten Gastarbeiter*innen der 1960er und 1970er Jahre?
Gül-Aynur: Die Gastarbeiter wurden vornehmlich in Kreuzberg, Neukölln- Nord und Wedding untergebracht. Als ich Anfang der 1970er Jahre mit meiner Mutter und meinen vier Geschwistern nach Berlin kam, mussten wir an der Werbellinstraße in einem Zimmer wohnen. In der neu erbauten Gropiusstadt haben wir keine Wohnung bekommen, weil wir Ausländer waren. Erst als dort zehn Jahre später der Mittelstand wieder wegzog, konnten wir umziehen. Heute wohnt die – mittlerweile vierte – Einwanderergeneration in allen Teilen der Stadt. Die Konzentration auf die Wohnorte hatte aber auch praktische Vorteile: man hat sich gegenseitig vor allem wegen der Sprache gebraucht und unterstützt.
Wie sieht es heute in Neukölln aus?
Hanadi: Die Sonnenallee ist zum Treffpunkt der arabischen und syrischen Migranten geworden. Hier kann man alles finden. Man kann völlig neue Lebensmittel kaufen, von denen man vor drei Jahren noch kaum etwas gehört hat. Schon früher konnten wir an der Sonnenallee das beste frische Brot kaufen und sind deswegen extra hierher gefahren. Heute kommt die Community aus ganz Berlin und Umgebung, um hier einzukaufen.
Wie haben Sie beide sich kennengelernt?
Gül-Aynur: Wir haben uns 2007 zu Stadtteilmüttern ausbilden lassen. In unseren Kurs kam eine Frau, die fragte, ob nicht jemand Lust hätte, aus migrantischer Sicht Stadtführungen in Neukölln zu machen. Dafür haben wir uns – nach etwas Überzeugungsarbeit durch mich (lacht) – zusammengefunden. Wir erzählen neben der allgemeinen Geschichte vor allem unsere persönliche Migrationsgeschichte
Betrachten Sie bzw. die Migrant*innen die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahre auch als „ihre“ Geschichte?
Gül-Aynur: Mit der Identifikation ist es in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden. Dazu trägt sicher aktuell auch die Özil- und Erdogan-Debatte bei. Der Abstand wächst. Schlimm waren auch die Einschnitte durch die Anschläge z. B. in Mölln und natürlich die NSU-Morde – das hat Vertrauen zerstört. Die Politik hätte deutlicher Stellung beziehen sollen. Die Türken haben sehr viel für Deutschland getan.
Ich habe hier in Deutschland meine Heimat aufgebaut. So wie ich werden viele immer noch als Gast behandelt, obwohl wir integriert sind, hier arbeiten und so weiter. Ich habe erst dieses Jahr meine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen.
Hanadi: Das ist „unser Thema“. Man spielt mit den Ängsten der Menschen. Die Unsicherheit ist sicher auch ein Grund, warum sich so wenige Migranten z. B. in Gremien engagieren. Wir haben andere Sorgen. Gül-Aynur und ich versuchen, mit unserer Arbeit dagegenzuhalten und im Hintergrund aufzuklären. Doch nur eine Schlagzeile, die z. B. die Kriminalität in den Vordergrund schiebt, macht unsere Arbeit kaputt.