Der Broadway Nº 10 – 2018/2019 widmet sich dem Thema „Wandel“. Kaum ein Begriff beschreibt die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre treffender – solange existiert die [Aktion! Karl-Marx-Straße] im Zentrum Karl-Marx-Straße nun schon.

Das Magazin beleuchtet den Wandel aus vielen unterschiedlichen Perspektiven – von den Menschen, die hier leben und arbeiten, über den öffentlichen Raum, die Entwicklung des Handels und der Gastronomie bis zur neuen Begeisterung für die Stadtnatur. Diese vielen unterschiedlichen Facetten zeigen das bunte Bild des Neuköllner Zentrums, seiner Chancen und Herausforderungen.

Es geschieht zu viel und zu schnell

„Entdecken Sie die spannenden Seiten der Einwanderung“ steht auf der Ankündigung der Route 44 – Neukölln Oneway, mit der die Stadtführerinnen und Stadtteilmütter Gül-Aynur Uzun und Hanadi Mourad zur Entdeckungsreise durch Nord-Neukölln einladen. Gül-Aynur kam 1973 mit ihrer Familie aus der Türkei, Hanadi flüchtete 1989 mit ihrer Familie vor dem Krieg im Libanon. Wir haben mit beiden Frauen über ihre Erfahrungen und ihr persönliches Heimatgefühl gesprochen.

Hanadi Mourad und Gül-Aynur Uzun

Hanadi Mourad und Gül-Aynur Uzun © Gabi Kienzl

Sie haben die Einwanderung zum Thema Ihrer Stadtführungen gemacht. Wo finden sich die Spuren der Einwanderung, vor allem die der so genannten Gastarbeiter*innen der 1960er und 1970er Jahre?

Gül-AynurDie Gastarbeiter wurden vornehmlich in Kreuzberg, Neukölln- Nord und Wedding untergebracht. Als ich Anfang der 1970er Jahre mit meiner Mutter und meinen vier Geschwistern nach Berlin kam, mussten wir an der Werbellinstraße in einem Zimmer wohnen. In der neu erbauten Gropiusstadt haben wir keine Wohnung bekommen, weil wir Ausländer waren. Erst als dort zehn Jahre später der Mittelstand wieder wegzog, konnten wir umziehen. Heute wohnt die – mittlerweile vierte – Einwanderergeneration in allen Teilen der Stadt. Die Konzentration auf die Wohnorte hatte aber auch praktische Vorteile: man hat sich gegenseitig vor allem wegen der Sprache gebraucht und unterstützt.

Wie sieht es heute in Neukölln aus?

HanadiDie Sonnenallee ist zum Treffpunkt der arabischen und syrischen Migranten geworden. Hier kann man alles finden. Man kann völlig neue Lebensmittel kaufen, von denen man vor drei Jahren noch kaum etwas gehört hat. Schon früher konnten wir an der Sonnenallee das beste frische Brot kaufen und sind deswegen extra hierher gefahren. Heute kommt die Community aus ganz Berlin und Umgebung, um hier einzukaufen.

Wie haben Sie beide sich kennengelernt?

Gül-Aynur: Wir haben uns 2007 zu Stadtteilmüttern ausbilden lassen. In unseren Kurs kam eine Frau, die fragte, ob nicht jemand Lust hätte, aus migrantischer Sicht Stadtführungen in Neukölln zu machen. Dafür haben wir uns – nach etwas Überzeugungsarbeit durch mich (lacht) – zusammengefunden. Wir erzählen neben der allgemeinen Geschichte vor allem unsere persönliche Migrationsgeschichte

Betrachten Sie bzw. die Migrant*innen die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahre auch als „ihre“ Geschichte?

Gül-Aynur: Mit der Identifikation ist es in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden. Dazu trägt sicher aktuell auch die Özil- und Erdogan-Debatte bei. Der Abstand wächst. Schlimm waren auch die Einschnitte durch die Anschläge z. B. in Mölln und natürlich die NSU-Morde – das hat Vertrauen zerstört. Die Politik hätte deutlicher Stellung beziehen sollen. Die Türken haben sehr viel für Deutschland getan.

Ich habe hier in Deutschland meine Heimat aufgebaut. So wie ich werden viele immer noch als Gast behandelt, obwohl wir integriert sind, hier arbeiten und so weiter. Ich habe erst dieses Jahr meine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen.

Hanadi: Das ist „unser Thema“. Man spielt mit den Ängsten der Menschen. Die Unsicherheit ist sicher auch ein Grund, warum sich so wenige Migranten z. B. in Gremien engagieren. Wir haben andere Sorgen. Gül-Aynur und ich versuchen, mit unserer Arbeit dagegenzuhalten und im Hintergrund aufzuklären. Doch nur eine Schlagzeile, die z. B. die Kriminalität in den Vordergrund schiebt, macht unsere Arbeit kaputt.

Stadtführung zu Einwanderung in Neukölln

Führung der Route 44, Neukölln Oneway: Auf den Spuren der Einwanderung in Neukölln © Gabi Kienzl

Wo fühlen Sie sich zuhause?

Hanadi: Ich fühle mich zuhause in meiner Wohnung – in Berlin – man findet alles hier. Berlin gefällt mir. Ich habe die Hälfte meiner Kindheit im Krieg verbracht und die andere Hälfte in Asylbewerberheimen. Die Menschen dort haben mich geprägt. Neukölln ist etwas sehr Besonderes: Jeder wird hier in Ruhe gelassen, hier kann man relaxed sein.

Gül-Aynur: Ich fühle mich in Neukölln zuhause. Weil ich hier groß geworden bin, weil hier meine Arbeit und meine Wohnung sind. Mein Gefühl ändert sich mit der Zeit immer mal wieder. Früher wollte ich unbedingt zur Mittelschicht gehören und viel lieber in Wannsee wohnen. Heute bin ich froh, dass ich hier wohne. Hier muss ich mich nicht verstellen.

Ändert sich das Lebensgefühl durch den starken Zuzug und den Druck auf den Neuköllner Wohnungsmarkt?

Hanadi: Es ist überwältigend. Es geschieht zu viel und zu schnell – negativ wie positiv. Neukölln wirkt nicht mehr so arm, die Menschen ändern sich. Es gibt jetzt sehr viele unterschiedliche Bildungsstandards. Diese neue Neuköllner Mischung findet man z. B. an der Rixbox auf dem Alfred-Scholz-Platz.

Gül-Aynur: Das „Dorf“ Nord-Neukölln ist hip geworden. Früher haben die Gastarbeiter den Stadtteil geprägt, nun werden auch wohlhabende Bewohner Neukölln prägen und weitere nach sich ziehen. Neukölln als unser „Wohlfühl-Ort“ ist auch in Gefahr.

Wir danken Euch für dieses Gespräch.

 Interview: Stephanie Otto und Tania Salas, raumscript