„Potenzial lokal“ heißt das Oberthema der 13. Ausgabe des Magazins BROADWAY Neukölln. Im zweiten Jahr der Pandemie war es dem Redaktionsteam besonders wichtig, einige der besonderen und vielfältigen Potenziale des Zentrums Neukölln ins Blickfeld zu rücken. Diese Potenziale sind es, die Kraft und Anziehungskraft entfalten, sich abheben und damit besondere Angebote für die Menschen hier und die Gäste des Zentrums Karl-Marx-Straße machen.

Stand Dezember 2021

Der Architekt für Neukölln: Reinhold Kiehl

Kein anderer Architekt hat das explodierende Rixdorf und spätere Neukölln Anfang des 20. Jahrhunderts so geprägt wie Stadtbaurat Reinhold Kiehl. Aus eigener Planung und Bauleitung entstanden in den acht Jahren seiner Tätigkeit für Rixdorf 14 Schulen und weitere 33 öffentliche Gebäude und Einrichtungen – vom Krankenhaus und Rathaus über ein Elektrizitätswerk bis zur Trinkhalle.

Reinhold Kiehls bis heute sichtbare Werke im Zentrum Karl-Marx-Straße sind unter anderem das Rathaus Neukölln, das Stadtbad und das Gebäude der ehemaligen Reichsbank in der Ganghoferstraße, die Passage sowie das Albert-Schweitzer-Gymnasium. Im gesamten Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße / Sonnenallee lernen die meisten Neuköllner Schülerinnen und Schüler noch immer in seinen Gebäuden: der Hermann-Boddin-Grundschule, der Rixdorfer Schule, dem Ernst-Abbe-Gymnasium, der Rütli-Schule und der Elbe-Grundschule. Im weiteren Umfeld finden sich „aus seiner Feder“ die Richard-Grundschule, das Albrecht-Dürer-Gymnasium und die Zuckmayer Schule.

Rathaus Neukölln Fassadenskizze

Rathaus Neukölln (Bauzeit 1908, Erweiterungen bis 1914)

Über die Person Reinhold Kiehl ist nicht so viel bekannt. Er wurde 1874 in Danzig geboren, ging dort zur Schule und studierte Hochbau – heute vergleichbar mit Architektur – in München und Braunschweig. Schon während seiner Ausbildung bekam er aufgrund seiner herausragenden Leistungen diverse Stipendien zuerkannt. In Berlin war er zunächst in Charlottenburg tätig, wurde 1904 in Rixdorf eingestellt und hier 1905 zum Ersten Stadtbaurat des neuen Hochbauamts gewählt.

Bis 1912 bearbeitete Kiehl die gewaltigen baulichen Aufgaben der noch eigenständigen Stadt, deren Einwohnerzahl im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von 90.000 auf 230.000 angestiegen war. Beeindruckend ist der kurze Zeitraum, der bei allen Bauten zwischen Baugenehmigung und Fertigstellung lag. Selten nahm es mehr als zwei Jahre in Anspruch, bis die Gebäude genutzt werden konnten. Allen Bauten ist die gestalterische Handschrift Reinhold Kiehls anzusehen, obwohl er offenbar einem großen Mitarbeiterstab im Hochbauamt vorstand. Julius Posener schreibt dazu: „Es mutet an wie ein Wettrennen mit dem Ort, der eben damals stärker wuchs als irgendeine andere Stadt in Europa. Der Stadtarchitekt wollte – und musste – Rixdorf in den Griff bekommen und er wollte diese viel zu schnell wachsende Arbeiterstadt erträglich machen und mehr als erträglich: angenehm, ja schön.“ *

Reinhold Kiehl

Als Kiehl in Rixdorf seinen Dienst antrat, galt er als unverbraucht und tatkräftig. Kiehl konnte hier Dinge erreichen, die sich in der großen Nachbarstadt Berlin nicht durchsetzen ließen. So schaffte er es, dass er als Leiter des Hochbauamts an der Lösung städtebaulicher Fragen entscheidend mitwirken konnte. Die Gestaltung von Straßenzügen konnte einem „Ortsstatut gegen die Verunstaltung des Stadtbildes“ unterworfen werden, Neubauprojekte mussten dem Hochbauamt zur Genehmigung vorgelegt werden. Für ungenügende Fassaden wurden Gegenvorschläge gemacht.

Stadttheater Skizze

Ein Entwurf, der nie realisiert wurde: am Standort der heutigen Neukölln Arcaden sollte ein Stadttheater entstehen.

Zudem führte die Verwaltung unter Kiehl als eine der ersten Städte Deutschlands das Angebot einer kostenlosen Bauberatung ein. Von ersten Erfolgen zeugt der Rixdorfer Rechenschaftsbericht aus dem Jahr 1912 / 1913: „Es sind eine Reihe guter Neubauten im Stadtgebiet entstanden und das Stadtbild beginnt einen neuen Ausdruck anzunehmen, der auch eine gewisse Einheitlichkeit ergibt.“

1912 verabschiedete sich Reinhold Kiehl aus Neukölln, weil er zum Sachverständigenbeirat in städtebaulichen Angelegenheiten beim Zweckverband Groß-Berlin gewählt worden war. Aber schon ein halbes Jahr später, am 10. März 1913, starb er in seinen Diensträumen an einem Herzstillstand – mit nur 39 Jahren. Sein Grab befindet sich auf dem St. Jacobi-Friedhof, dessen Kapelle er selbst entworfen hatte. Im Nachruf des Neuköllner Tageblatts vom 12. März 1913 heißt es: „(…) Als Kiehl im Jahr 1904 die neubegründete Stelle des Stadtbauinspektors für Hochbau in Neukölln übernahm, sah er sich vor Aufgaben gestellt, wie sie eine Stadtverwaltung nur in ganz seltenen Ausnahmen zu stellen hat. (…) Das sind Aufgaben, wie sie anderswo in Generationen in langsam wohlüberlegten Schaffen und Werden entstehen. Und wie hat Reinhold Kiehl in den 8 Jahren seiner hiesigen Tätigkeit diese Aufgaben bewältigt! Seine Bauten haben der Stadt das Gepräge gegeben. Sie gelten mit Recht mit ihrer schlichten und vornehmen äußeren Gestaltung wie in ihrer inneren Anordnung als Musterbauten und haben Neuköllns Namen und den des Erbauers weit über die Grenzen Berlins bekannt gemacht. (…)“.

Es lohnt sich, auf eine Entdeckungsreise zu seinen Gebäuden zu gehen.

Stephanie Otto, raumscript

Gebäude von Kiehl im Sanierungsgebiet

  • Hermann-Boddin-Grundschule
  • Rixdorfer Schule
  • Ernst-Abbe-Gymnasium
  • Rütli-Schule
  • Elbe-Grundschule
  • Rathaus Neukölln
  • Ehemalige Reichsbank Ganghoferstraße
  • Stadtbad mit ehemaliger Bibliothek
  • Passage Neukölln
  • Ehemalige Bedürfnisanstalt,
  • Sonnenallee / Ecke Elbestraße
  • Wildenbruchbrücke

* Die Zitate und Architekturzeichnungen in diesem Artikel sind dem Buch „Architekt Reinhold Kiehl: Stadtbaurat in Rixdorf bei Berlin, 1987“ entnommen.