Im  Broadway Nº 11 – 2019/2020  nehmen wir das Thema „Vielfalt“ beim Wort: Von den ganz unterschiedlichen Voraussetzungen für ein gelingendes Zusammenleben in Vielfalt, über die Vielfalt der Flächennutzung im Handel, tierische Artenvielfalt, queeres Leben, Vielfalt der Kulturen und Religionen und weitere vielfältige Aspekte des Lebens und Arbeitens im Bezirkszentrum Karl-Marx-Straße.

Einmal queer durch das Zentrum Karl-Marx-Straße

Eine fiktive Reise: Startpunkt in Sachen LGBTQI* ist die Karl-Marx-Straße, Höhe Anzengruberstraße. Links vor der alten Post eröffnet ein Ausstattungsladen vom „Fummel“ bis zum Lederdress. Daneben findet sich ein exklusiver Sexshop. In den „Arcaden“ locken eine queere Partnervermittlung und eine Regenbogen-Smoothie-Bar mit veganem Catering. Neben dem Rathaus wirbt ein Lesecafé mit schwul-lesbischer Literatur.

* LGBTQI: lesbisch, schwul (gay), bisexuell, transgender, queer als Oberbegriff und intersexuell. Der Begriff selbst ist im Wandel und wird vielfältiger. Es hat immer etwas mit Genderidentität oder -Orientierung zu tun. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

"Tuntenspaziergang"

„Tuntenspaziergang“
Demonstration gegen Homophobie, Diskriminierung und Gewalt, 2018 © Christian Kölling

So könnte es sein, wenn man die Vorstellung des neuen hippen, aber auch gentrifizierten Neukölln hochrechnet. Doch das bleibt Phantasie. Um reale queere Orte in Neukölln zu finden, muss man sich weiter als einen Steinwurf von der Karl-Marx-Straße entfernen. Als erstes geht es deshalb links in den Rollbergkiez zum SchwuZ. Das SchwulenZentrum existiert seit 1977 und zog vor sechs Jahren unter vielen Bedenken nach Neukölln um. Seitdem ist es Partybunker und zentrale Location für alle Queens and Queers. Auch dank der intensiven Kommunikation mit dem Umfeld hat es sich hier fest etabliert.Über die Hermannstraße hinweg gelangt man zum RuT e.V. in der Schillerpromenade 1, das hier seit 30 Jahren verortet ist. „Rad und Tat“ ist eine Initiative und ein Treffpunkt lesbischer Frauen, der für alle Frauen offen ist. Hier werden Veranstaltungen und Beratungen angeboten. Seit Jahren wird an einem generationsübergreifenden Wohnprojekt gearbeitet. 

„ABqueer e.V.“ in der Okerstraße 44 will queere Lebensweisen sichtbar machen und bietet Beratung und Fortbildungen für Jugendliche und Lehrer*innen an. „Schwul“ ist immer noch eine der häufigsten Beschimpfungen auf den Berliner Schulhöfen. „ABqueer“ stellt u. a. „di*erTiere“ von trans*fabel aus. Dieses Kunstprojekt samt Buchvertrieb „jenseits des 2-Geschlechtersystems“ ist auf transfabel.de zu finden.

Queer hat Tradition in Neukölln. Der Rückweg aus Richtung Schillerpromenade gleicht einer Abschiedstour. In der Selchower Straße fand man bis 2012 das „Café Xenzi“: Ein kiezig kultiger, queerer Ort für alle mit Wohnzimmeratmosphäre. Auch die „Trommel“ in der Thomasstraße schloss Anfang des Jahrzehnts nach über 37 Jahren und galt als Berlins älteste Schwulen-Bar. Das „SUZIE FU“ in der Flughafenstraße, ein Ort für „Queer World Citizens“, wurde lange von einer Frau geführt. Es ist seit Ende 2014 closed. Zuletzt stellte das „Ludwig“, eine Café-Bar mit Holzambiente in der Anzengruber Straße, im September 2019 den Betrieb ein. Die „Souls of Ludwig“ kann man sich auf der Webseite noch ansehen.

Silverfuture

Das „Silverfuture“ in der Weserstraße © Silverfuture

Der Rundgang endet in der Gegenwart, über den Hermannplatz hinweg, in der Weserstraße. Inmitten angesagter Locations zeigt das „Theater im Keller“ hier Travestieshows, unweit der arabisch geprägten Sonnenallee. Im „Silver­future“ verkehrt seit Jahren vorwiegend jüngeres queeres Publikum. Die Café-Bar im entspannten wie exzentrischen tiefdunkelrosa Look zeigt auch Live-Programm. Hier performen u. a. die „Venus Boys“, die Maskulinitäten reflektieren. Die Künstler*innen der Gruppe „Queer Syria“ wollen als solche gesehen und nicht auf ihre Herkunft aus Syrien und Iran reduziert werden, wie sie in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel äußerten. Sie treten dort mit Gesang, Bauchtanz und Performance auf.

Auch einzelne Persönlichkeiten machen die queere Seele von Neukölln aus. So zeigt sich Ades Zabel als DJ Adessa Zabel oder das „unbeugsam bunte“ Neuköllner Original Edith Schröder. Die Verwandlungskünstlerin Bridge Markland performt ortspezifisch oder reist in ihrer Classic-Box durch die Weltgeschichte. Menschen in Projekten, Locations, in Jobs und Werkstätten prägen individuell queere Atmosphäre und Inhalte durch ihre Präsenz und ihre Arbeit.

Das Festival „48 Stunden Neukölln“ ist für alle da und unterstützt gerne queere Projekte, wenn sie sich beteiligen wollen. Das geschah 2014 mit der Neurosa Route, die queere Orte und Veranstaltungen als solche gelabelt hat. 2017 wurde als Teil des Festivals die Reihe „48 Tunten Neukölln“ vom SchwuZ organisiert. Ein Mann in Stöckelschuhen oder eben im „Fummel“ zieht eindeutige Reaktionen auf sich: Aufmerksamkeit, Lust oder Belustigung, Ablehnung, bis hin zur Aggression. Und es ist immer noch dieses Bild, das vielen Menschen zuerst einfällt, wenn sie an „queer“ denken. Mit zunehmender Gewalt gegen LGBTQI-Menschen wurde der Ruf nach einer Queerbeauftragten laut. Von wirtschaftlichen Fragen wie Kaufkraft und sozialer Situation sind allerdings alle Selbstständigen betroffen. Wie kann sich die Langzeitarbeitslose Edith Schröder einen Barbesuch leisten? Das Thema „Überleben in Neukölln“ wurde auch 2017 von Rosa von Praunheim in seinem Dokumentarfilm thematisiert.

Warum eröffnen queere Locations hier nicht im gleichen Takt wie einst in Schöneberg, und warum schließen andere wieder? Gibt es weniger Bedürfnis nach expliziter Sichtbarkeit?

Zurück im eigenen Atelier. Im Gewerbehof in der Lahnstraße weht eine Regenbogenfahne, die man von der Straße aus nicht sieht.

Simone Schmidt, Zebrazone