Der KARLON #3 – 2016 berichtet mit dem Schwerpunkt Wohnen über die Entwicklungen im Aktiven Zentrum und Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße/Sonnenallee. Hier wird viel daran gearbeitet, das Wohnumfeld den gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen anzupassen. Dazu gehören die Modernisierung und der Ausbau der Schulen, Straßen, Grünverbindungen und Fahrradwege.

Neukölln rückt zusammen

Wohnen im Zentrum Karl-Marx-Straße

Berlin wächst. Eine Entwicklung, die auch im Sanierungsgebiet angekommen ist. Fast jeder hat das Gefühl: Es verändert sich etwas, neue Gesichter und Geschäfte in den Straßen, überall wird gebaut, sind Häuser eingerüstet. Richtig greifbar ist der Prozess aber nicht. Während die einen sich freuen, dass etwas passiert und sagen „Neukölln ist nun auch mal dran“, fühlen sich andere bereits bedroht.

Vorauszusehen war das nicht: Bei den Vorbereitenden Untersuchungen zur Festsetzung des Sanierungsgebiets 2007 / 2008 spielte das Wohnen noch eine untergeordnete Rolle. Es fielen eher die fast 10 % Leerstand auf. Starkes Wachstum ist in der Stadtplanung langfristig betrachtet meist eine Phase, die neue Entwicklungsmöglichkeiten bietet – die Chance Fehlendes zu ergänzen und Störendes zu ersetzen. Es kann aber auch „Glücksritter“ anlocken, die eine erhöhte Steuerung erforderlich machen, damit das Wachstum möglichst positiv und nachhaltig auf den Stadtraum wirkt; wobei der Bezirk nicht alles steuern kann und will. Bei der Stadtentwicklung geht es um möglichst viel Mehrwert für alle, nicht die berühmte „Käseglocke“, denn nicht alles ist gut so, wie es ist.

Neukölln wächst

Statistik Sanierungsgebiet

–> GRAFIK S. 4-5

Um zu verstehen, was gerade im Gebiet passiert, wer hierher zuzieht und woher, und was das für die bestehenden Einrichtungen wie z. B. Kitas und Spielplätze bedeutet, wurde eine Wohn- und Infrastrukturuntersuchung (WIU) erarbeitet (abrufbar unter kms-sonne.mmserver.org/service/downloads-veroeffentlichungen/wohn-und-infrastrukturuntersuchung-wiu). Für ganz Berlin werden nach der Bevölkerungsprognose bis 2030 rund 265.000 neue Einwohnerinnen und Einwohner erwartet, davon werden rund 14.300 Neuköllnerinnen und Neuköllner sein (+4,4 % bezogen auf den Stand vom 31.12.2014).

Die Auswertung der Studie hat ergeben, dass die Bevölkerung im Sanierungsgebiet bereits zwischen 2008 und 2013 um 7 % oder um über 2.000 Einwohnerinnen und Einwohner auf 30.664 gestiegen ist. Bis 2030 wird hier eine Einwohnerzahl von über 33.000 prognostiziert (ca. 8 % Steigerung) – unter Berücksichtigung der begrenzten Nachverdichtungspotenziale.

Besonders die Altersgruppe der 25- bis 35-jährigen hatte den stärksten Zuwachs von 42 %. Sie hat sich also fast verdoppelt. Gleichzeitig ist der Anteil der 6- bis 18-jährigen zurückgegangen, also der Schülerinnen und Schüler. Eine der Erklärungen für diesen Rückgang könnte sein, dass Familien aus Neukölln wegziehen, wenn ihre Kinder schulpflichtig werden. Die Frage ist: Liegt es an dem mangelnden Vertrauen in die Qualität der Neuköllner Schulen oder liegt es vielleicht doch an dem fehlenden bezahlbaren Wohnungsangebot für Familien? Beides ließe sich aus der Statistik erklären. Ein weiteres Ergebnis der Wohnungsuntersuchung ist nämlich, dass im Sanierungsgebiet viele familiengerechte Wohnungen fehlen und lediglich ein Viertel der Wohnungen im Sanierungsgebiet mehr als zwei Zimmer hat.

Im Sanierungsgebiet ist viel in Bewegung. Zwischen 2008 bis 2013 sind rechnerisch fast so viele Umzüge erfolgt wie Einwohnerinnen und Einwohner vorhanden sind. Hierbei waren die vielen Zuzüge auch möglich, weil die Leerstände aufgefüllt wurden. Darüber hinaus gibt es keine Anzeichen dafür, dass wir in Neukölln enger zusammengerückt sind.

Wenn die prognostizierte Einwohnerentwicklung tatsächlich eintritt, wird nicht jeder, der ins Sanierungsgebiet ziehen möchte, auch eine Wohnung finden. Auch die Nutzung sämtlicher Neubaupotentiale kann das Missverhältnis zwischen Wohnungsangebot und -nachfrage vermutlich nicht lösen – zumindest nicht für Mieterinnen und Mieter, da die meisten Wohnungen als Eigentumswohnungen errichtet werden. Die Folge sind wie überall in der Berliner Innenstadt steigende Mieten und damit auch eine beginnende Veränderung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung. Daher wird zur Zeit auch für den Bereich des Sanierungsgebiets untersucht, ob die Voraussetzungen für die Festlegung sogenannter Milieuschutzgebiete vorliegen. Die Ergebnisse werden voraussichtlich bis zum Sommer vorliegen (www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/aemter/stadtentwicklungsamt).

Nicht nur in Berlin, sondern deutschlandweit ist der Konsum von Wohnfläche seit 1991 von 36 m² auf 46 m² 2013 gestiegen. Jeder Einzelne nutzt mehr Wohnraum. Auch dieses Problem lässt sich aus der Statistik leicht ablesen. Nachdem nun die Leerstände weitgehend abgebaut sind, wird das Bevölkerungswachstum künftig immer stärker vom Neubau abhängen. Allerdings ist das Sanierungsgebiet bereits einer der am dichtesten besiedelten Räume Berlins. Wohnungsnahe Freiflächen und Spielplätze sind bereits heute Mangelware. Wichtig ist daher, auf eine städtebaulich verträgliche Nachverdichtung zu achten, die nicht entkoppelt von der Leistungsfähigkeit der sozialen und verkehrlichen Infrastruktur erfolgt. Ebenso sollen nicht neue Missstände geschaffen werden, indem jedes bisschen Grün, das noch vorhanden ist, neuen Wohnungen weichen muss.

Das Zentrum Neukölln als attraktiver Wohnstandort
Die Karl-Marx-Straße als Zentrum Neuköllns ist ein bedeutender Wohnstandort. Dies ist sehr ungewöhnlich für ein Berliner Hauptzentrum. Als „Kerngebiet“ ausgewiesene Bereiche sind in der Regel keine Wohnstandorte. 1.583 Wohneinheiten wurden im Kerngebiet gezählt, liegen also im direkten Einzugsbereich an der Karl-Marx-Straße. D. h., fast 3.000 Personen leben in unmittelbarer Nachbarschaft zu den großen Einzelhandels- und Verwaltungseinrichtungen des Neuköllner Zentrums. Ein großer Anteil der Wohnhäuser wird von der Einzelhandels- oder gastronomischen Nutzung im Erdgeschoss und oft durch weitere Gewerbeflächen in den oberen Geschossen dominiert. Bewohnerinnen und Bewohner sind zugleich Kunden der verschiedenen lokalen Angebote und sorgen für eine Belebung der Straße, insbesondere nach Geschäftsschluss.

Hieraus ergibt sich die Aufgabe der Sanierung, die Wohnnutzung im Zentrumsbereich zu schützen und weiter zu entwickeln. Andere Nutzungen, die dem Wohnen Konkurrenz machen, gehören deshalb immer auf den Prüfstand und können nur genehmigt werden, wenn ein deutlicher Gewinn für das Zentrum absehbar ist.

Das Zweckentfremdungsverbot von Wohnraum kann im Sanierungsgebiet unter bestimmten Voraussetzungen durch eine sanierungsrechtliche Genehmigung ersetzt werden. Dabei muss nicht nur geprüft werden, inwieweit der Nutzungsänderung einer Wohnung zu einer vielleicht auch rentableren gewerblichen Nutzung zugestimmt werden kann, sondern auch, ob Nutzungskonflikte mit den bestehenden Wohnungen durch die neuen Nutzungen verhindert werden müssen. Dies ist umso komplizierter in der Abwägung, als auch die Stärkung des Neuköllner Zentrums als Kultur- und Einzelhandelsstandort ein wichtiges Sanierungsziel ist.

Die 16 Leitlinien zur Beurteilung von Wohnungsbauvorhaben in Nord-Neukölln
Zur Sicherstellung einer städtebaulich verträglichen Nachverdichtung wurden mit der Formulierung der 16 Leitlinien zur planungsrechtlichen Beurteilung von Wohnungsbauvorhaben durch das Stadtentwicklungsamt Neukölln bereits die Weichen gestellt. In besonders sensiblen Bereichen wie den Blöcken 182 und 151 werden kleinräumige Sanierungsziele formuliert, um die Potentiale zu sichern – weitere Bereiche werden folgen. In der WIU-Studie wurde auch untersucht, welche verträglichen Neubaupotentiale es gibt. Insbesondere durch Dachgeschossausbau können insgesamt circa 1.200 neue Wohnungen für rund 2.500 Einwohnerinnen und Einwohner entstehen, wenn man die üblichen Planungsannahmen zur Wohnungsgröße zu Grunde legt. Im Rahmen der 16 Leitlinien wird über gleichzeitige Auflagen zur Hof- und Freiflächengestaltung dafür Sorge getragen, dass die Nachverdichtung mit einer Qualitätsverbesserung für die bereits vorhandene Bewohnerschaft einhergeht. Neubau und Nachverdichtung wird überall da, wo es möglich ist, bereits vorbereitet oder umgesetzt. Im Sanierungsgebiet sind von 2008 bis 2014 vor allem auf dem ehemaligen Kindl-Gelände 134 Wohneinheiten neu entstanden, weitere 52 Wohneinheiten durch den Ausbau von Dachgeschossen.

Projekt „12053“ auf dem Kindl-Gelände mit 119 Wohneinheiten

Fazit
Sollten wir tatsächlich zusammenrücken, den vorhandenen Wohnraum besser nutzen und mehr Platz für Zuziehende bekommen, dann muss die vorhandene Infrastruktur angepasst werden. Auch dafür fehlen im engen Neukölln die Flächen. Deshalb wird jedes Potential genau geprüft, ob es nicht auch für die Infrastruktur geeignet ist. Zwei Projekte weisen den Weg: Zum einen wird die bisher für zwei Klassenzüge ausgelegte Elbe-Schule 3-zügig, damit sie ein umfassendes Angebot bieten kann. In einem anderen Projekt, im Block 77, sollen Flächen angekauft werden, damit Infrastruktureinrichtungen für Jugendliche und Familien mit Kindern entstehen können. Davon wird in dieser KARLSON-Ausgabe noch die Rede sein.

Vielleicht müssen wir auch unsere Art zu wohnen und unsere Haltung zum Bauen verändern. Ein Beispiel könnte die Nutzung von Gewerbeflächen für das Wohnen sein. Dafür steht z. B. die Entwicklung des Kindl-Geländes, über die wir ebenfalls in einem Artikel berichten.

Ziel der Städtebauförderung ist es, gleichwertige Lebensbedingungen für alle zu schaffen. Die Veränderungen der Bevölkerung und vor allem die Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt können aber mit den Mitteln der Sanierung nur geringfügig beeinflusst werden. Mit den beschlossenen 16 Leitlinien zur Nachverdichtung in Neukölln kann der Wohnungsneubau verträglich gesteuert werden. Diesen leisten überwiegend Private. Die öffentliche Verwaltung wird im Gegenzug daran arbeiten, die Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner mit Infrastruktureinrichtungen sicherzustellen.

Horst Evertz, Oliver Türk