Im KARLON #5 – 2018, der Sanierungszeitung für das Gebiet Karl-Marx-Straße/Sonnenallee, können Sie sich wieder über die vielschichtigen Entwicklungen informieren. Die Themen reichen von den zahlreichen Verkehrsprojekten über die Erneuerung am Weigandufer zu den Möglichkeiten der Beteiligung im Sanierungsgebiet.
Wüstenbahn und die legendäre Linie 47
Eine kurze Geschichte der Neuköllner Straßenbahnen
Das Rathaus Neukölln mit der Straßenbahnlinie 47 in den 1960er Jahren (Kunst und Bild GmbH)
Derzeit hat der Berliner Senat Voruntersuchungen für den weiteren Ausbau des Straßenbahnnetzes beauftragt, auch für Strecken im ehemaligen Westteil der Stadt. Für das Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße/Sonnenallee ist dabei die geplante Verlängerung der M10 von der Warschauer Straße zum Hermannplatz von hohem Interesse, wird sie doch mit großer Wahrscheinlichkeit Teile des Sanierungsgebiets durchfahren. Diese Entwicklungen sind dem KARLSON ein willkommener Anlass, einmal in die Neuköllner Straßenbahngeschichte einzutauchen.
Berlin nahm aus historischer Sicht weltweit eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung des Verkehrsmittels „Straßenbahn“ ein. Die Stadt verfügt bis heute trotz der zeitweise vollständigen Abschaffung der Straßenbahn in West-Berlin über eines der ältesten und größten Straßenbahnnetze der Welt. Die erste Pferdebahnlinie auf dem heutigen Berliner Stadtgebiet wurde am 22. Juni 1865 zwischen dem Brandenburger Tor und der Nachbarstadt Charlottenburg eingerichtet. Von diesem Zeitpunkt an wuchs die Zahl der Linien und Betreibergesellschaften in rasantem Tempo und hohem Wettbewerb untereinander. War man in Berlin vor den 1860er Jahren noch relativ bequem „zu Fuß“ ans Ziel gelangt, erforderten die Stadt-erweiterungen, die zahlreichen Eingemeindungen und die zunehmende Trennung von Wohnen und Arbeiten leistungsfähigere Verkehrsmittel.
Als die Straßenbahn 1899 in Neukölln – damals noch Rixdorf – Einzug hielt, nannte man sie schon liebevoll „Elektrische“, denn die Pferdebahnlinien waren bis 1902 vollständig elektrifiziert worden. Rixdorf war Haltepunkt der Ringlinie der Südlichen Berliner Vorortbahn (SBV). Start- und Zielpunkt war das Hallesche Tor. Sie fuhr von dort über Kreuzberg, Schöneberg, Tempelhof und Britz über die heutige Karl-Marx-Straße und den Hermannplatz zurück zum Halleschen Tor. Diese Straßenbahnlinie erhielt von den Berlinern den Namen „Wüstenbahn“, weil ihre Strecke in Tempelhof und Britz durch vorwiegend unbebautes Gelände führte, wo Sand- und Schneeverwehungen oftmals den Verkehr erschwerten. Besonders sonntags nutzten die Bewohner*innen der Vororte die Ringführung der Bahn für 10-20 Pfennig pro Person auch gern zu „Vergnügungsfahrten“ durch die dörfliche Umgebung. 1900 wurde eine neue Strecke von der Bergstraße (heute Karl-Marx-Straße) über den Richardplatz und die Kaiser-Friedrich-Straße (heute Sonnenallee) zum Hermannplatz eingerichtet. In der Folgezeit kam es immer wieder zu Streckenveränderungen und Umbenennungen der Linien. 1928 wurde mit der Liniennummer 6 ein neuer und erweiterter Ring geschaffen, der vom Ringbahnhof Neukölln über den Wildenbruchplatz, die Elsenstraße, über die alte Mitte Berlins, Moabit, die heutige City West und schließlich über Schöneberg wieder auf der alten Strecke nach Neukölln zurückführte. Die Fahrtzeit betrug insgesamt 139 Minuten. Die SBV hatte für ihren Betrieb 30 hellgrüne Triebwagen der „Neu-Berolina“ angekauft, die über 20 Sitz- und 12 Stehplätze verfügten.
Die Linie 95 verkehrt neben dem Mittelstreifen auf der Sonnenallee, 1960er Jahre (Archiv Sigurd Hilkenbach)
Nach den großen Zerstörungen des 2. Weltkriegs wurden die Straßenbahnlinien sehr schnell wiederaufgebaut. Die Teilung der Stadt führte aber zu neuen Verwerfungen. War es zunächst noch möglich, ungehindert zwischen den Sektorengrenzen zu verkehren, mussten ab 1949 die Schaffner an den Grenzen zum Ostteil der Stadt wechseln. Dies betraf auch die Linie 6, die über die heutige Karl-Marx-Straße sowie Erk- und Wildenbruchstraße fuhr und an der Elsenstraße ihren Wechselpunkt hatte. Weitere wichtige Linien im Norden Neuköllns waren die Linie 2 (mit Verlauf Hermannplatz, Sonnenallee, Reuter- und Pflügerstraße), die Linie 95 (fuhr durch die Sonnenallee), die Linie 15 (Sonnenallee, Braunschweiger Straße, Karl-Marx-Straße) oder die Linie 47. Letztere war spätestens seit ihrer durchgehenden Führung von Rudow bis zum Hermannplatz ab Mai 1950 eine wichtige und hochfrequentierte Erschließungslinie durch den Bezirk – trotz der parallelen Führung zur U-Bahnlinie 7. Die Triebwagen der „47“ vom Typ TF 50 verfügten über 26 Sitz- und 34 Stehplätze. Die Wagenkästen wurden von den Gaubschat–Fahrzeugwerken in Neukölln geliefert.
Der Hermannplatz mit Karstadt-Filiale als Haltepunkt für die Straßenbahn (Archiv Sigurd Hilkenbach)
Im Juli 1954 begann in West-Berlin im Zuge des autogerechten Umbaus der Stadt der Rückbau des Straßenbahnnetzes. Nach und nach ersetzten neue U-Bahnlinien und Dieselbusse die Linienrouten. So schlug am 1. Oktober 1966 auch die letzte Stunde der Linie „47“, die als letzte Straßenbahnlinie im Berliner Süden verkehrte. Ein erhaltener Triebwagen steht heute im Deutschen Technikmuseum Berlin. Am 2.10.1967 fuhr dann die letzte Straßenbahn in West-Berlin. Nun, gut 50 Jahre danach, sieht es ganz danach aus, als ob die Straßenbahn in absehbarer Zeit wieder das Straßenbild von Nord-Neukölln prägen wird.
Stephanie Otto
Die geplante Verlängerung der M10
Für die geplante Neubaustrecke der M10, Warschauer Straße bis Hermannplatz, haben Anfang 2018 die Untersuchungen begonnen, die aus verschieden möglichen Trassenführungen eine Vorzugstrasse ermitteln sollen. Die Prüfung erfolgt anhand eines umfänglichen Kriterienkatalogs und einer für Berlin einheitlichen Methodik. Der Abschluss der Untersuchungen ist für das Frühjahr 2019 vorgesehen. Die Strecke nach Neukölln soll circa 2,8 Kilometer lang werden. Pro Tag werden 30.000 Fahrgäste erwartet. Die Realisierung kann nach erfolgreicher Prüfung in circa fünf bis sechs Jahren erfolgen.