Dies ist ein Artikel ist aus dem KARLSON #11 – 2024, der Zeitung für das Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße/Sonnenallee.

Stand November 2024

Gemeinschaft macht Schule

Die Reformschulbewegung am Standort Rütlistraße im 20. Jahrhundert

Mit seinen zahlreichen Angeboten und Einrichtungen stellt der Campus Rütli – CR² im Reuterkiez für viele Schulkinder und Menschen aus der Nachbarschaft einen wichtigen Bezugspunkt dar. Herzstück des Campus ist die Gemeinschaftsschule, die auf eine 125-jährige Geschichte zurückblicken kann. Schon damals spielte der Aspekt des gemeinschaftlichen Lernens eine wichtige Rolle im Unterrichtsalltag. Reformpädagogische Ansätze eröffneten dabei ein völlig neues Verständnis von Bildung und Erziehung.

Rütlischule

Schulstandort in der Rütlistraße um 1910 (Foto: © Museum Neukölln)

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung in Rixdorf wie im benachbarten Berlin stark an, vor allem durch den Zuzug kinderreicher Arbeiterfamilien und Gewerbetreibender. Die steigende Einwohnerzahl zog unter anderem den Bau neuer Schulen nach sich. So öffneten am 7. Oktober 1909 nach rund anderthalbjähriger Bauzeit gleich zwei Schulen in der Rütlistraße ihre Pforten: die 31. und 32. Gemeindeschule – die spätere Rütli- und Heinrich-Heine-Schule. Es handelte sich hier um öffentliche Schulen, in denen die Kinder eine schulische Grundausbildung erhielten. Während die Jungen die 31. Schule besuchten, war die 32. Schule den Mädchen vorbehalten. Gemeinsam teilten sie sich ein hufeisenförmiges Gebäude, bestehend aus einem Mittelbau und zwei zur Straße hin orientierten Seitenflügeln. Architekt war Reinhold Kiehl, der in seiner achtjährigen Tätigkeit als Stadtbaurat 14 Schulen und viele weitere prägnante Gebäude, darunter das Rathaus und das Stadtbad, für Rixdorf entwarf und das Stadtbild zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend mitbestimmte.

Rütlischule

Busdepot unweit nördlich des Schulgebäudes, Ecke Pflügerstraße/Rütlistraße (1914)
Foto © Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (02) Nr. II12704

Die Umgebung des Schulstandorts war geprägt von mehrgeschossigen Mietskasernen mit einem oder mehreren Innenhöfen, die im Zuge der Industrialisierung vielerorts entstanden. In direkter Nachbarschaft zum Schulgebäude entstanden aber stattdessen vorwiegend gewerbliche Nutzungen mit Büro-, Lager- und Garagengebäuden. So errichtete die Gesellschaft für elektrische Hoch- und Untergrundbahnen in Berlin, aus der später die BVG hervorging, an der Ecke Pflügerstraße/Rütlistraße – auf dem heutigen Campusgelände – ein Busdepot. Vor dem freistehenden Schulkomplex wiederum erstreckte sich ein Turnhof, der durch den im Grundriss U-förmigen Baukörper und die Rütlistraße begrenzt wurde. Hinter dem Mittelbau befand sich der Haupthof. Ein Schulgarten gehörte ebenfalls zur Anlage.

Knapp 1.000 Schülerinnen und Schüler, verteilt auf 20 Klassen, wurden im ersten Schuljahr in der Rütli­straße unterrichtet. In den Folgejahren stiegen die Schülerzahlen stetig an. Doch der geordnete und unbeschwerte Schulalltag währte nur kurz. Denn der 1914 entfachte Erste Weltkrieg hatte massive Auswirkungen auf den Schulbetrieb. So wurden unter anderem mehrere Lehrer zum Kriegsdienst eingezogen. Zusätzlich erschwerte der Mangel an Lebensmitteln und Kohle die Unterrichtsbedingungen. Im Sommer 1915 wurde das Schulgebäude geräumt und diente fortan als Kaserne. Als Ausweichstandort wurde die 25. Gemeindeschule in der Elbestraße genutzt. Erst im Januar 1920 konnte der renovierte Schulbau wieder bezogen werden.

Rütlischule

Koedukativer Kunst- und Werkunterricht am Schulstandort Rütlistraße (1920er Jahre; Foto © Museum Neukölln)

Schule als Versuchsfeld
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Berlin sogenannte „weltliche Schulen“ eingeführt, in denen es keinen Religionsunterricht gab. Mit diesem Schulmodell ging die Forderung einher, maßgeblich vorangetrieben durch die dort beschäftigten Lehrkräfte, pädagogisch neue Wege zu beschreiten. Weitere Impulse, Bildung und Erziehung neu zu denken, kamen von engagierten Eltern. Infolgedessen wandelten sich unter anderem die Schulen am Standort Rütlistraße zu weltlichen Einrichtungen, in denen verschiedene neue pädagogische Ideen und Methoden umgesetzt wurden. Getragen wurde diese Entwicklung vor allem von jungen, so­zia­listischen, kommunistischen und pazifistischen Lehrkräften, die an die Stelle konservativer Lehrerinnen und Lehrer traten. Schon bald gab es daher in der Rütlistraße gemischte Klassen. Und auch bei der Bewertung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler ging man neue Wege: Es gab weder Noten noch Zwischenzeugnisse. Stattdessen tauschten sich die Lehrkräfte in regelmäßigen Gesprächen mit den Eltern über das Lern- und Sozialverhalten der Kinder aus. Eine Ausnahme bildeten die Abgangs- und Abschlusszeugnisse, die weiterhin ausgestellt wurden.

1923 erhielten zehn Schulen in fünf Berliner Bezirken, darunter die 31. und 32. Schule in der Rütlistraße, den offiziellen Status von „Versuchsschulen“ und entwickelten sich auf Basis erster, bereits verwirklichter reformpädagogischer Ansätze zu Lebensgemeinschaftsschulen. Diese folgten den Richtlinien des damaligen Berliner Oberstadtschulrats Wilhelm Paulsen, der das Schulmodell Anfang der 1920er Jahre entwickelt hatte. Dabei griff Paulsen insbesondere auf Erfahrungen zurück, die er an Hamburger Gemeinschaftsschulen gesammelt hatte. Für weniger reformfreudige Eltern wurde in Ergänzung zu den beiden neu gegründeten Lebensgemeinschaftsschulen in der Rütlistraße im bestehenden Schulgebäude eine dritte Schule – die 41./42. Schule – eingerichtet, die als weltliche Schule ohne Reformansätze konzipiert war. Damit umfasste die Rütlischule, wie sie im Volksmund genannt wurde, nun drei Schulen.

Rütlischule

Luftbild vom Reuterkiez aus dem Jahr 1928 mit Kennzeichnung des Schulgebäudes und der heutigen Ausdehnung des Campus Rütli – CR² (Foto © Geoportal Berlin)

Schulalltag an einer Lebensgemeinschaftsschule
In den beiden Versuchsschulen in der Rütlistraße wurde zwischen Lebensgemeinschaften und Schüler-Arbeitsgemeinschaften – das heißt, zwischen Kern- und Kursangeboten – unterschieden. Die Lebensgemeinschaften entsprachen dabei weitgehend den bisherigen Jahrgangsklassen und waren einer Klassenlehrerin bzw. einem Klassenlehrer zugeordnet. Das Verhältnis zwischen Schulkindern und Lehrkräften war stets durch ein sehr vertrauensvolles Miteinander geprägt. Man duzte sich beispielsweise, was für die Zeit durchaus ungewöhnlich war.

Im Rahmen der Arbeitsgemeinschaften, der zweiten Säule des Reformkonzepts, wurden die Neigungen der Schülerinnen und Schüler gezielt gefördert. Vier Gruppen von Arbeitsgemeinschaften (AGs) standen dabei zur Auswahl: 1.) AGs zu Unterrichtsfächern, wie beispielsweise Erdkunde und Geschichte, in denen der Unterrichtsstoff vertieft wurde, 2.) AGs zu Nicht-Unterrichtsfächern, darunter Englisch, Esperanto, Kunstgeschichte usw., 3.) AGs im musisch-kulturellen Bereich, wie zum Beispiel Chorgesang sowie Theaterspiel und 4.) AGs zu praktischen Arbeitsvorhaben. Letztere umfassten beispielsweise die Arbeit im schuleigenen Garten und handwerkliche Kurse, in denen Radios, Skier etc. angefertigt wurden. Die meisten AGs fanden an einem festen Wochentag statt, teilweise nachmittags nach der Schule. Gelegentlich nahmen auch interessierte Eltern an den AGs teil und brachten ihre Kenntnisse und Fähigkeiten ein.

Rütlischule

Schulkinder der 31. Schule beim Esperanto-Unterricht (1928; Foto © Museum Neukölln)

Grenzen der Reformpraxis
Ungeachtet aller Erfolge und Neuerungen, welche die Arbeit der Reformpraxis in der Rütlistraße mit sich brachte, zeigten sich aber auch relativ früh die Grenzen der reformpädagogischen Bewegung. So traten soziale Gegensätze in der Elternschaft mit der Zeit immer deutlicher zutage, weshalb sich Teile von ihnen nicht mehr an schulischen Belangen und Aktivitäten (Schulzeitung, Elternversammlungen etc.) beteiligten. Hinzu kam, dass der Standort Rütlistraße immer mehr als „Auffangbecken“ für schwierige Schulkinder und Pro­blemfälle genutzt wurde, die die Regelschulen nicht länger bei sich haben wollten.

Ab den 1930er Jahren, als sich die Folgen der Weltwirtschaftskrise zunehmend auch auf das Schulwesen auswirkten, geriet die Reformpraxis in der Rütlistraße verstärkt unter Druck. So führte zum Beispiel die hohe Arbeitslosigkeit bei vielen zu einem Gefühl von Perspektivlosigkeit. Dies äußerte sich auch in veränderten sozialen Verhaltensweisen: Diebstähle häuften sich und die Aggressivität der Kinder unterein­ander nahm zu. Dies war verbunden mit einem schwindenden Interesse der Eltern an dem Schulmodell. 1932 verzeichnete insbesondere die 32. Schule einen so starken Anmelderückgang, dass sie auf Beschluss des Bezirksamts aufgelöst wurde. Die betroffenen Schulkinder und Lehrkräfte wurden daraufhin auf die beiden anderen Schulen in der Rütlistraße aufgeteilt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 führte schließlich zur endgültigen Beendigung der Reformpraxis vor Ort; die Reformschulbewegung wurde zerschlagen. In der Rütlistraße entstanden wieder zwei nach Geschlechtern getrennte Schulen.

Rütlischule

Schulkinder beim Ausdruckstanz (1920er Jahre; Foto © privat)

Auch wenn das Modell der Lebensgemeinschaftsschule in der Rütlistraße nach rund zehn Jahren wieder ein Ende fand, so erlangte die umgangssprachlich so bezeichnete Rütlischule als Reformvolksschule damals große Aufmerksamkeit. Hier erprobten Lehrkräfte gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern nicht nur neue Unterrichtsmethoden und -fächer, sondern revolutionierten mit ihrem pädagogischen Programm auch die schulische Bildung und Erziehung. Dies machte die „Rütlischule“ weit über die Kiez­grenzen hinaus bekannt und trug dazu bei, dass der Ansatz des gemeinschaftlichen Lernens Einzug in das Berliner Schulsystem fand.

Christoph Lentwojt

Pädagogisches Konzept im 21. Jahrhundert

Mit dem Campus Rütli rund um die Rütli-Schule ist ein für breite Bevölkerungsschichten zugänglicher Ort mit vielfältigen Bildungs- und sozialen Angeboten entstanden. Ein entsprechendes Gesamtkonzept für den Campus wurde 2007 verabschiedet. Zu Beginn des Schuljahres 2009/2010 schlossen sich die drei bis dahin eigenständigen Schulen Franz-Schubert-Grundschule, Rütli-Hauptschule und Heinrich-Heine-Realschule im Rahmen des Pilotprojekts „Gemeinschaftsschule“ der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung zur ersten Gemeinschaftsschule Berlin, Bezirk Neukölln zusammen. Im Jahr 2014 erfolgte die Umbenennung in „Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli“.