Dies ist ein Artikel ist aus dem KARLSON #10 – 2023, der Zeitung für das Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße/Sonnenallee.

Stand November 2023

Am langen Ende der Sonnenallee

Ein Blick in die Geschichte der Straße

Die Sonnenallee ist mit rund fünf Kilometern die längste Straße Neuköllns. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie in historischen Quellen und Betrachtungen bisher verhältnismäßig wenig Spuren hinterlassen hat.

Überregional bekannt wurde die Sonnenallee 1999, als der gleichnamige Film von Leander Haußmann große Kinoerfolge feierte. Dieser bezog sich allerdings nur auf das etwa 400 Meter lange „kurze Ende der Sonnenallee“, das im damaligen geteilten Berlin im Ostteil und heute im Bezirk Treptow-Köpenick liegt. Das Sanierungsgebiet befindet sich ungefähr zwei Kilometer westlich von hier. Zwischen Inn- und Pannierstraße verläuft die Sonnenallee rund einen Kilometer durch das Sanierungsgebiet und stößt drei Querstraßen weiter auf den Hermannplatz.

Sonnenallee

Kaiser-Friedrich-Straße Ecke Hermannplatz um 1920

Von der Straße 84 zur repräsentativen Kaiser-Friedrich-Straße
Die Bebauung der Sonnenallee entwickelte sich vom Hermannplatz aus gesehen genau andersherum, und zwar von West nach Ost. 1880 begann der Bau auf den ehemaligen „Köllnischen Wiesen“. Diese Flächen, die sich bis zum Baumschulenweg ausdehnten, waren ursprünglich im Besitz der Stadt Berlin und wurden erst nach langwierigen Verhandlungen der damals noch selbstständigen Stadt Rixdorf überlassen. Obwohl sie sumpfig und im Winter meist überschwemmt waren (und vereist dann als Schlittschuhbahn dienten), sollte sich vor allem auf ihnen die weitere kommunale städtebauliche Entwicklung Neuköllns vollziehen. Die im ersten Bauabschnitt nur 300 Meter lange Straße der heutigen Sonnenallee hieß schmucklos „Straße 84“ und endete an der Reuterstraße. 1893 folgte die Umbenennung nach dem „99-Tage-Kaiser“ Friedrich III. Die Namensgebung deutete an, dass man mit der Straße bereits Größeres vorhatte. Die Wohnungsnot war akut und zwang auch Rixdorf zur Erschließung neuer Flächen.

Sonnenallee

Die Sonnenallee in den frühen 1960er Jahren

Wiesen und Gärten mussten vor allem ab 1890 nach und nach neuen befestigten Straßen und Gebäuden weichen. Grundsätzlich war es nicht einfach, die Bebauung durchzuführen: Die hohen Häuser mussten vor allem im Bereich Pannier- und Pflügerstraße aufgrund des sumpfigen Geländes auf Pfahlrosten errichtet werden. An der Sonnenallee wollte federführend der damals umtriebige Bürgermeister Hermann Boddin eine repräsentative Bebauung durchsetzen, um z. B. auch kleinere Beamte zum Umzug nach Rixdorf zu bewegen. So erhielten trotz höherer Kosten (der zusätzliche öffentliche Raum konnte nicht als Bauland verkauft werden) die Kaiser-Friedrich-Straße und deren Nebenstraßen wie z. B. die Elbestraße baumbestandene Mittelpromenaden und breitere Straßenquerschnitte als sonst in Rixdorf üblich. In der Folgezeit wurden zahlreiche Straßenbäume gepflanzt sowie Blumen- und Rasenflächen angelegt.

Ernst-Abbe-Gymnasium

Durch das enorme Stadtwachstum wurde in Rixdorf Ende des 19. Jahrhunderts eine neue weiterführende Schule benötigt. 1899 ging das heutige Gymnasium als „Höhere Lehranstalt für Knaben“ in Betrieb, wurde aber ebenso wie die Straße kurz darauf nach dem verstorbenen Kaiser in „Kaiser-Friedrich-Realgymnasium“ umbenannt. Die Architekten waren Hermann Weigand und Reinhold Kiehl. In den 1920er Jahren wurde die Schule unter dem Namen Karl-Marx-Schule zu einem bedeutenden Ort der Reformpädagogik, wo z. B. Arbeiter ein Abitur machen konnten. Alle diese Bestrebungen wurden im Nationalsozialismus wieder zunichte gemacht. 1956 erhielt die Schule ihren jetzigen Namen nach dem Sozialreformer Ernst Abbe.

Sonnenallee

Das Kaiser-Friedrich-Realgymnasium um 1910

Die Promenade der Sonnenallee war ein gern genutzter Ort. Ein Zeitzeuge schrieb: „Die Promenade mit ihrer doppelten Lindenreihe und dem sich von Linde zu Linde rankenden wilden Wein war eine Sensation, genau wie die doppelte Fahrbahn. Im Sommer waren fast alle Ruhebänke von der lufthungrigen Bevölkerung besetzt, und manches Mal diese Reihe durch die vielen Kinderwagen mit ihrem quietschenden, krächzenden und schreienden Inhalt unterbrochen: denn Rixdorf war kinderreich!“ (aus: Mitteilungsblatt des Neuköllner Heimatvereins Nr. 5, 1955).

Neue Nutzung für die Sonnenallee 47-49

In der Kaiser-Friedrich-Straße 227-228 befand sich seit 1897 die Metallwarenfabrik Goliasch. Schon 1910 änderte sich die bauliche Situation auf dem Grundstück. Ein Zeitzeuge erinnerte sich: „Wo früher Holzplätze für Tischlereien, Bauunternehmen usw. waren, reckten sich innerhalb weniger Jahre Wohnhäuser in die Höhe, die in ihrer Aufmachung dann unsere Bewunderung erregten, wie z. B. das Wohnhaus, das der Metallwarenfabrik Goliasch vorgebaut wurde, dafür aber der alte Gußeisenzaun weichen musste.“ Das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Vorderhaus wurde 1959 zu Wohnzwecken wieder aufgebaut. Ab 1976 siedelten sich hier und im alten Fabrikgebäude nach und nach medizinische Versorgungs- und Pflegeeinrichtungen an. 2016 wurden alle Einrichtungen vom Diakoniewerk Simeon übernommen. Mittlerweile soll jedoch die Pflegeeinrichtung aufgegeben und das Gebäude verkauft werden, da für den Träger eine Sanierung als nicht mehr wirtschaftlich erscheint.

Soziale und politische Verwerfungen sowie viel Verkehr
1920 erhielt der südliche Teil der Straße außerhalb des S-Bahnrings den Namen Sonnenallee. Kurz dahinter befand sich das Arbeitsamt, das umgangssprachlich „Haus ohne Hoffnung“ hieß und in der schweren Wirtschaftskrise Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre einen düsteren Ruf innehatte. Die Verzweiflung der Menschen, die auf Unterstützung und Arbeit hofften, schlug sich hier besonders deutlich nieder und nationalsozialistische sowie kommunistische Agitation fanden in dieser Situation reichlich Zuspruch. 1938 wurde die gesamte Straße namentlich zusammengefasst und nach Hitlers Geburtsort in „Braunauer Straße“ umbenannt. Ab 1947 hieß die Straße über die sowjetische und amerikanische Besatzungszone hinweg schließlich Sonnenallee.

Polizeidirektion Sonnenallee 107

1899 zog die königlich-preußische Polizei mit knapp 200 Polizisten in Rixdorf ein und ersetzte die damals zunächst zuständigen 14 Land­gendarmen, die mit der Vielzahl der Aufgaben in Rixdorf völlig überfordert gewesen waren. Schnell wurde ein neues Gebäude benötigt und man fand an der Sonnenallee / Ecke Wildenbruchstraße ein passendes Grundstück. 1901 war Baubeginn unter dem Baumeister Timmermann. Es entstand ein L-förmiger Bau im Renaissance-Stil mit einem prägenden seitlichen Türmchen. In dem denkmalgeschützten Gebäude befindet sich noch heute der Abschnitt 54 der Berliner Polizei, der für rund 97.000 Menschen im umliegenden Gebiet zuständig ist.

Sonnenallee

Die Polizeidirektion an der Sonnenallee um 1910

Seit 1902 verkehrten unterschiedliche Straßenbahnlinien direkt neben dem Mittelstreifen – aus heutiger Sicht idyllisch anmutend unter den Baumreihen der Kaiser-Friedrich-Straße. Ganz anders sah es nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ausbau der autogerechten Stadt aus: Die Straße bot kaum noch Grün und hatte sich zu einer stark befahrenen Verkehrsachse gewandelt. 1965 titelte die Berliner Morgenpost: „Sonnenallee muss entschärft werden.“ Keine andere Straße der Stadt hätte so viele Verkehrstote gefordert wie die Sonnenallee, hieß es in dem Artikel. Neue Ampeln wie an der Kreuzung Erk- und Wildenbruchstraße sollten die Situation verbessern. Drähte, die die Sträucher der Mittelpromenade von der Fahrbahn abgrenzten, wiederum wurden zur Stolperfalle: „Es ist mehrfach vorgekommen, dass Fußgänger – vor allem Kinder und Angetrunkene – die Straße an den nicht dafür gekennzeichneten Stellen überqueren wollten, über den Draht stolperten und auf die Fahrbahn fielen. Dabei wurden sie dann von Fahrzeugen erfasst“. Folgende Empfehlungen wurden damals ausgesprochen: Verengung der Promenade, Beseitigung der Stolperdrähte und Ausbau der beiden Fahrbahnen zu je einer Park- und zwei Fahrspuren. Die Straßenbahnlinien wurden seit den 1950er Jahren überall in West-Berlin und auch auf der Sonnenallee 1966 komplett eingestellt und durch Busse ersetzt.

Baulückenschließung in der Sonnenallee 90

Gegenüber der Mündung Elbestraße in die Sonnenallee befand sich seit 1908 ein Vorderhaus mit komfortablen und mit Bädern ausgestatteten Wohnungen. Mit einer Sondergenehmigung war der Holzgiebel „zur Belebung der Fassade und Erhöhung der Gesamtwirkung“ ebenfalls repräsentativ ausgestattet worden. Im gleichzeitig entstandenen Quergebäude hatten u. a. ein Tischlereibetrieb und eine Galvanische Anstalt ihren Sitz, aber auch Leuchtröhren und Papierrollen wurden produziert. Das Vorderhaus wurde im Krieg zerstört, das Quergebäude wird bis heute gewerblich genutzt. Derzeit entsteht an dieser Stelle ein sechsgeschossiges Wohn- und Geschäftshaus mit ansprechender Straßenfassade.

Sonnenallee

Die eingeschossige Ladenzone wird durch den Neubau eines sechsgeschossigen Wohn- und Geschäftshauses ersetzt

Seit den 1980er Jahren wurde immer wieder der Niedergang der Geschäftsstraße thematisiert und über Möglichkeiten der Aufwertung beraten. Viele Krisen später ist die Straße national wie international berühmt und als die „arabische Straße“ Berlins bekannt geworden. Nicht zuletzt durch die vielen Menschen, die nach 2015 aus dem arabischen Raum in die Hauptstadt gekommen sind, haben sich hier zahlreiche arabische Geschäfte sowie Gastronomiebetriebe angesiedelt und die Konjunktur der Straße belebt.
Stephanie Otto